Wie kommen wir aus der Monster-Krise? Nur gemeinsam!
Weiden. Krieg, Energieengpass, Klimakrise, Inflation, Arbeitskräftemangel: Auf Einladung des Amberger Europa-Abgeordneten Ismail Ertug ringen Politik, IHK-Vertreter und Gewerkschafter um Lösungen für die Zeitenwende, die auch die Oberpfalz mit voller Wucht trifft.

Als der Amberger Europa-Abgeordnete Ismail Ertug seine österreichische Kollegin und Vize-Präsidentin des Europa-Parlaments, Evelyn Regner, in die OTH Weiden einlud, sah die Welt noch anders aus. Es war die Zeit vor dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine, bevor Putin den Gashahn als Waffe einsetzte.
„Wir haben die Veranstaltung damals unter dem Titel ,Wandel der Arbeitswelt und die Auswirkungen auf den Industriestandort Oberpfalz‘ geplant“, sagt Ertug. Die Herausforderungen waren auch schon ohne den irrsinnigen Krieg gewaltig: „Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Fachkräftemangel, gleiche Teilhabe der Frauen, qualifizierte Zuwanderung, Verkehrswende.“
Energiewende vor Jahren versemmelt
Als Folge des Konflikts mit Russland müsse man in kürzester Zeit Alternativen zum russischen Gas und Öl finden. „Wir haben das versemmelt“, sagt Ertug klipp und klar, dass sich Vorgänger-Regierungen und Wirtschaft vom billigen russischen Gas abhängig machten. „Wir müssen auf erschwingliche erneuerbare Energien setzen.“ Weil man diese lange abgewürgt habe, stehe man nun unter gewaltigem Druck.
Laut Heinrich-Böll-Stiftung wären schätzungsweise 100 Millionen Tonnen grünen Wasserstoffs nötig, die man bis Mitte dieses Jahrhunderts benötige, um das russische Gas zu ersetzen. „Das werden wir allein in Europa nicht schaffen“, ist Ertug skeptisch. „Wir brauchen dazu Partnerschaften mit Staaten rund um Europa.“ Dazu komme, dass die bayerische Staatsregierung mit ihrer 10-H-Regelung eine weitere Energie-Alternative ausgebremst habe.
Vizepräsidentin will „mehr Demokratie wagen“
Viele Schlüssel zu Lösungen der drängendsten Probleme lägen in Brüssel, ist der Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments bewusst. Und leider auch die Schwerfälligkeit der europäischen Institutionen: „Wenn ich die Lösung hätte“, sagt Evelyn Regner, „würde ich bei 1,2,3 aufspringen.“ Hoffnung macht der Wienerin mehr die Basis als die Eliten: „Unter dem Titel ,Future of Europe‘ haben 800 Bürgerinnen und Bürger, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wurden, repräsentativ nach Alter, Beruf und Geschlecht über notwendige Veränderungen diskutiert.“
Erstaunlich einhellig seien sie alle, die junge Arbeitslose aus Estland genauso wie der Pensionist aus Irland oder die Vertreter von NGOs, zu dem Ergebnis gekommen: „Dass sich Konzerne selber ihr Regelwerk machen, sodass kein Finanzminister weiß, wie er sie besteuern soll, ist absurd – die Einstimmigkeit zumindest bei den Steuern muss weg.“ Allerdings wisse sie auch, dass die Regierungen in Ungarn und Polen sogar entgegen eigener Interessen, einen Spaß an der Sabotage entwickelt hätten. „Sie haben den Zug aufgehalten.“ Nicht aber die Bürger: „Wir müssen uns nicht fürchten vor mehr Demokratie.“
Nicht nur Fachkräfte-, auch Arbeitskräftemangel
„Wir haben jetzt schon eine Lücke von 13.000 Fachkräften im Gebiet der IHK Oberpfalz und Kelheim“, geht Thomas Genosko, IHK-Abteilungsleiter Standortpolitik, Innovation und Umwelt, gleich in medias res. „Und die wird sich in den kommenden Jahren weiter vergrößern.“ Und das trotz eines Maßnahmenbündels für eine attraktivere Ausbildung, des Projekts „Ausbildungsscouts auf Augenhöhe“ oder der „Kampagne Elternstolz“. Lebenslanges Lernen oder Effekte durch die Digitalisierung seien bereits eingepreist. „Wir bräuchten 400.000 Zuwanderer jährlich, um den demografischen Wandel auszugleichen.“
Das will Johann Horn, IG Metall Bezirksleiter Bayern, nur teilweise unterschreiben. „Wir haben nicht nur einen Fachkräfte-, sondern einen Arbeitskräftemangel.“ Aller beschönigender Statistiken zum Trotz seien noch immer 3,5 Millionen Menschen ohne Arbeit, die man qualifizieren müsse. „Wir haben ein ausreichendes Potenzial.“ Wenn Unternehmen nicht produzieren könnten, liege das an abgerissenen Lieferketten: „Unternehmen haben gegen den Widerstand der Gewerkschaft jedes noch so kleine Teil verlagert“, kritisiert Horn, „und sie kriegen das trotz der Beteuerungen während der Pandemie nicht mehr in den Griff.“
Seit der Wirtschaftskrise 2008 beobachte er jetzt schon eine Fahrstuhl-Ökonomie. „Ich sehe jetzt die Gefahr, dass er stehenbleibt.“ Wenn man nicht schleunigst einen Plan entwerfe, wie man diese Ökonomie weiter gestalten will, schiebe man ein paar Mittelständler an die Wand. „Die Sozialdemokratie ist prädestiniert, eine neue Strategie zu finden.“
IHK und Europa-Politikerin fordern Willkommenskultur
Florian Rieder, IHK-Geschäftsstellenleiter für die nördliche Oberpfalz, widerspricht: „Das Bild vom Fahrstuhl, der stehen bleiben könnte, ist mir zu kurz gesprungen.“ Die Folgen des Fachkräftemangels habe er erst vorige Woche bei einem großen Arbeitgeber mit 7000 Mitarbeitern besichtigen können. „Es muss auch darum gehen, die Menschen, die zu uns kommen, bestmöglich zu integrieren.“ Er sei fasziniert, wie kreativ Unternehmen auf diese Herausforderung reagierten: „Die fragen sich tatsächlich, ob sie Sozialpädagogen einstellen sollen.“ Für Rieder laute die gesamtgesellschaftliche Frage: „Wie schaffen wir den Weg zu einer echten Willkommenskultur im ländlichen Raum?“
Europa-Politikerin Evelyn Regner sieht hier die Mitgliedsstaaten in der Pflicht: „Die Schlüssel liegen auf dem Tisch, die Nationalstaaten nützen ihn nicht.“ Wenn sie die Situation bei sich zu Hause anschaue, den Pflegenotstand in Spitälern und Pflegeheimen, kommt sie zu der Schlussfolgerung: „Wir müssen diesen Österreich-first-Plakatierern etwas entgegenhalten.“ Die Integrationsinstrumente seien vorhanden. „Was wir als Sozialdemokraten leisten müssen, ist, die Zuwanderer nicht nur als Arbeitskraft zu betrachten, sondern auch für Wohnraum und Kindergartenplätze zu sorgen.“
Hilfspaket im Marktwert von Porsche
IHK-Vertreter Genosko lenkt den Blick auf die Gesamtsituation: „Bei unserer letzten Konjunkturumfrage vom Frühsommer wurde die aktuelle Lage noch ganz gut bewertet.“ Allerdings blickten schon da viele Unternehmer mit Sorge in die Zukunft: „Auch auf die internationale Situation, da über 50 Prozent der Mitgliedsunternehmen anhaltende Störungen der Lieferketten beklagten“, schildert er die Lage nach Produktionsstopps wegen des Lockdowns in Shanghai sowie mangelnde Luftfrachtkapazitäten, Engpässe in den Häfen und fehlende Transportalternativen wegen Niedrigwassers.
„Wir sind froh darüber“, sagt Marianne Schieder, Landesgruppenchefin der bayerischen SPD-Abgeordneten im Bundestag, „was wir erreichen konnten im Koalitionsausschuss.“ Vor allem auch für die mittelständische Wirtschaft. „Wir tun unser Möglichstes, werden aber nicht alles ausgleichen können.“ Ernsthaft müsse man jetzt mit denen reden, die die Situation ausnutzten. Lob für das Entlastungspaket mit nominell 65 Milliarden Euro kommt vom Gewerkschafter: „Es wurde noch einmal richtig nachgesteuert“, sagt IG-Metall-Bezirkschef Horn, „viele Maßnahmen werden auch helfen.“ Etwas Essig gießt er dennoch in den Wein: „Das Paket hat den Marktwert von Porsche – damit versuchen wir, die Republik zu retten.“
Statt Frauenquote Abschaffung der Männerquote
In puncto Digitalisierung sieht IHK-Vertreter Genosko die „Unternehmer in der Breite sehr gut aufgestellt“. Einen erheblichen Schub habe sie durch den Druck durch Corona erhalten. „Das wirkt sich auf fast alle Lebensbereiche aus, ob als Erleichterung schwerer Arbeit in der Logistik oder bei neuen Geschäftsmodellen im Handel.“ Auch der Gewerkschafter will da nicht widersprechen: „Die Frage des technologischen Wandels ist älter wie die Arbeiterwelt“, weiß Horn. „Ohne ihn müssten wir immer noch 80 Stunden arbeiten, nicht 35.“ Die Frage sei: „Werden die Menschen beteiligt, bekommen sie ein Mitbestimmungsrecht auch bei unternehmerischen Entscheidungen?“
Die österreichische EU-Politikerin lobt Deutschland für Fortschritte bei der Gleichstellung: „Ihr habt auf nationaler Ebene schon eine Regelung“, sagt Regner. „Das ist in erster Linie den Gewerkschaften zu verdanken.“ Auf europäischer Ebene komme eine 40-Prozent-Quote für Aufsichtsräte. „Den Vorschlag hat EU-Justizkommissarin Reding vor 10 Jahren auf den Tisch gelegt“, aber weder sie noch von der Leyen habe ihn umgesetzt. Geschafft habe es eine Allianz ganz normaler Frauen. „Es geht nicht um die Frauenquote, sondern die Abschaffung einer Männerquote durch Seilschaften.“
Das schönste Schlusswort zur Bewältigung der Krisen spricht dann der IHK-Abteilungsleiter: „Ein Wort ist wichtig“, betont Genosko, „nämlich gemeinsam – Gesellschaft, Politik und Wirtschaft müssen an einem Strang ziehen.“ Und der IG-Metall-Repräsentant schließt mit einem Bonmot von Albert Einstein: „Ich mache mir gerne Gedanken über die Zukunft – schon deswegen, weil ich gedenke, die meiste Zeit darin zu verbringen.“
Wortmeldungen: Mehr Bürgerbeteiligung, Strompreis-Lüge, europäischer Führerschein
Hermann Kucharski, Vorsitzender Europa-Union Amberg: „Ich befürchte, dass die Ergebnisse der EU-Zukunftskonferenz mit Bürgerbeteiligung wieder irgendwo verschrumpft wird. Wie könnt ihr euch besser gegen die Bremser in der Kommission und der Regierungschefs im Rat durchsetzen?“
Evelyn Regner: „Ich erwarte mir da von unseren Leuten, von Bundeskanzler Scholz, vom spanischen Ministerpräsidenten Sanchez einiges.“
Ismail Ertug: „Was Scholz dazu in Prag gesagt hat, dass wir Europa stärken müssen und deshalb die Einstimmigkeit wegmuss, war wichtig.“
Uli Grötsch, Weidener Bundestagsabgeordneter (SPD): „Ich glaube nicht, dass die Energiekonzerne freiwillig auf Gewinne verzichten – das muss der Staat lösen. Dazu gehört die Über- oder Zufallsgewinnsteuer. Meine Bitte an die IHK: Werben Sie dafür, dass sich die Unternehmen Energie unabhängig machen. Jetzt ist die Zeit, um zu investieren.“
Reinhold Strobl, ehemaliger Landtagsabgeordneter (SPD): „Es wird immer suggeriert, als wäre die Photovoltaik schuld an den hohen Energiepreisen. Es muss deutlicher klargestellt werden, dass Energie aus Sonne und Wind längst billiger sind als konventionelle Energieträger.“
Günther Cermak, Auerbacher Omnibusunternehmer: „Ein Bus-Führerschein dauert bei uns 140 Stunden. In Österreich kostet er 3500 Euro. Wir brauchen Zuwanderer und auch mehr Frauen. Wir überlegen deshalb bereits die Umgestaltung der Aufenthaltsräume, um den Zugang zum Beruf zu erleichtern. Ich bin gerne bereit, einen Zuschuss zu zahlen, aber 8000 bis 10.000 Euro kann ich mir nicht leisten, wenn ich nicht weiß, wie lange jemand bleibt. Wir müssen das Führerscheinrecht dringend europaweit harmonisieren.“
Karl Heinz König, Betriebsrat Rohrwerk Maxhütte Sulzbach-Rosenberg: „Die Kapitalisten haben uns in die Insolvenz geführt, wir haben das Rohrwerk wieder auf den Weg gebracht. Wir bedanken uns bei der SPD, die uns immer unterstützt hat.“
Alexander Gröbner, Verdi-Bezirksgeschäftsführer Oberpfalz: „Es geht darum, die Ärmsten so schnell wie möglich zu entlasten, um sie nicht den Falschen zuzutreiben. Was mich auch umtreibt: Die Übertragungsnetze im unteren Bereich sind wichtig für die Photovoltaik.“Horst Kuhn: „Wir brauchen andere Mitarbeiter und andere Vorgesetzte. Kennt noch jemand die Hamburger Grundsätze des ehrbaren Kaufmanns?“
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