Späte Sühne für Tote am Eisernen Vorhang: ČSSR-Oberst (90) ist sich keiner Schuld bewusst
Prag. Es ist das erste Mal, dass ein Ex-Funktionär der Tschechoslowakei vor Gericht steht: Am Prager Bezirksgericht wird seit gestern gegen Jan Muzikář verhandelt. Dem ehemaligen Vize-Chef des Grenzschutzes wird eine Mitschuld an zwölf Toten und Verletzten am Eisernen Vorhang gegeben.

Bisherige Versuche der tschechischen Ermittler scheiterten in den letzten Jahren am Gesundheitszustand der betagten Kommunistenführer. Manche Beschuldigte starben während der Ermittlungen.
Auch Jan Muzikář wirkte am ersten Verhandlungstag angegriffen. Der 90-Jährige kam mit einem Rollator ins Gericht. „Er versteckte den Kopf in den Händen und zitterte so, dass ihn sein Verteidiger beruhigen und seine Hand halten musste“, beschreibt der tschechische Journalist Radim Vaculik von Novinky.cz. Ausführlich berichtet auch die Tageszeitung Deník.
Verteidigung: Oberst habe nur „Empfehlungen“ gegeben
Aufgrund seines Gesundheitszustands könne Muzikář nicht aussagen, teilte sein Anwalt Jaroslav Ortman mit und verlas eine Erklärung: Der frühere Oberst der tschechoslowakischen Grenztruppen trage keine Schuld am Tod und den Verletzungen in den angeklagten Fällen. Er habe nur beratende Funktion gehabt und selbst keinerlei Schießbefehle erteilt.
„Es gab nie einen Befehl aus seinem Mund zu schießen“, sagte der Verteidiger. Sein Mandant habe nur die damals geltenden Gesetzte durchgesetzt. Muzikář habe als Mitglied des Militärrats nur „Empfehlungen“ ausgesprochen. Im Gespräch mit Journalisten bezeichnete es der Jurist als „traurig“, dass jetzt, 35 Jahre nach dem letzten Fall, ein 90-jähriger Mann vor Gericht gestellt werde.
In der Anklage: die Erschießung von Johann Dick
Die Anklage von Staatsanwältin Katarína Kandová enthält zwölf Fälle von Toten und Verletzten zwischen 1982 und 1989. Größtenteils handelt es sich um DDR-Bürger, die über die Tschechoslowakei in den Westen fliehen wollten. Besonders dramatisch ist der Tod des Magdeburger Abiturienten Hartmut Tautz, der mit 18 Jahren 1986 an der slowakisch-österreichischen Grenze von Diensthunden zerfleischt wurde.
Enthalten ist aber auch der Tod von Johann Dick: Der Wanderer aus Amberg in der Oberpfalz war 1986 bei Bärnau erschossen worden, weil man ihn mit einem polnischen Flüchtling verwechselt hatte. Die ČSSR-Soldaten waren 200 Meter auf deutsches Staatsgebiet eingedrungen. Aus vier Kalaschnikows fielen mindestens 41 Schüsse. Dick erlitt einen Bauchschuss.
Staatsanwältin will zwei Jahre Haft auf Bewährung
Die Prager Staatsanwältin hält Jan Muzikář für mitverantwortlich. Er sei direkter Vorgesetzter des Grenzschutzes gewesen und verlangte von seinen Männern maximalen Einsatz, wörtlich „auch um den Preis extremster Mittel“. Er habe die kommunistische Ausbildung der Grenzsoldaten forciert, einschließlich des Hasses auf den Klassenfeind.
Es sei nicht ihre Schuld, dass der Oberst erst jetzt vor Gericht komme, sagte die Staatsanwältin. Die Anklage werde durch die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unterstützt. Sie schlug eine Bewährungsstrafe von zwei Jahren Haft und eine Geldstrafe von 100.000 Kronen (4000 Euro) vor, was die Gegenseite ablehnte.
90-Jähriger verließ nach 20 Minuten das Gericht
Für den 90-Jährigen endete der erste Verhandlungstag vor dem Prager Bezirksgericht 1 nach 20 Minuten. Nach Verlesung der Anklageschrift verließ der Senior den Gerichtssaal. Er will auch nicht wieder kommen: Sein Anwalt beantragte eine Prozessführung ohne den Angeklagten. Sein Gesundheitszustand sei zu schlecht.
Gerichtsvorsitzende Šárka Šantorová verlas daraufhin ein psychiatrisches Gutachten, wonach er einer Verhandlung aus geistiger Sicht problemlos folgen könne. Das Verfahren wird mit der Anhörung von Zeugen fortgesetzt.
Sechs der Geschädigten leben noch. Der Prager Anwalt Lubomir Müller vertritt einige Opfer oder deren Verwandte. Er kommentierte gegenüber OberpfalzECHO den Prozessauftakt mit den Worten: „Es ist wertvoll, dass der Prozess begonnen hat, aber das Ende ist noch nicht in Sicht.“
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Wenn dienstliche Aufgaben mit Ideologie gefüllt werden, entweicht die Menschlichkeit. Es darf keiner seiner Strafe entgehen.